Hundertjährige

100 x 100 Jahre // 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte.

Der Künstler DG Reiß porträtierte in den 90er Jahren viele hundertjährige Frauen und Männer aus dem Hamburger Raum. Er besuchte sie zu ihrem Geburtstag in ihrem privaten Lebensraum: der eigenen Wohnung oder seltener im Altenheim. Sie ließen sich gerne an ihrem Ehrentag fotografieren, stolz ob ihres biblischen Alters. Sie öffneten sich ihm und erzählten ihm Geschichten aus ihrem hundertjährigen Leben.

Alltägliche Episoden aus einer für uns nicht mehr greifbaren Zeit. Da ging es um Ausflüge an die Elbe mit geschmierten Butterbroten, an die ersten Tanzschritte in Begleitung der Großmutter in einem der zahlreichen Ballhäuser. Und immer um die beiden Weltkriege. Um die ganze Palette der technischen Erneuerungen, die ihren Alltag dramatisch veränderten: von den abends angezündeten Gaslaternen bis zum Computer, von den holprigen Straßen der Pferdebahn bis zu Auto- und Landebahnen. Die Zeit spulte sich ab, der Künstler wurde förmlich in ihren Bann gesogen, sobald er ihren Lebensraum betrat, in die feierliche Geburtstagsaura eintauchte: die 100-jährige Geschichte war immer wieder aufs Neue faszinierend.

Lange lagen die Kleinbild-Dias der meist festlich gekleideten alten Menschen in der Schublade. Inzwischen hat der Künstler die Fotos digitalisiert, die bunten Blumenmeere farblich etwas zurückgenommen, und nach einem passenden Rahmen gesucht, die Portraits mit all ihren Assoziationen zu präsentieren. DG Reiß wird 2013 im Westwerk hundert Hunderjährige aus seinem Archiv zeigen, 10.000 JahreMenschheitsgeschichte.

Zitate aus den Erzählungen der greisen Geburtstagskinder lassen erahnen, was sich in den Bereichen Fortschritt, Gesellschaft und Kultur im letzten Jahrhundert getan hat. Heutige Selbstverständlichkeiten wie Autos, Flugzeuge, Elektrizität wurden damals ungläubig zur Kenntnis genommen. Zwei Kriege, Leid, Hunger und Entbehrung lehrten die Zeitzeugen den Frieden als höchstes Gut zu schätzen und den Faschismus als den Feind alles Lebens zu verachten.

Das Tempo unserer Zeit bekommt einen neuen Maßstab. Alter und Tod – »Herbst des Lebens«, aber auch Glück und Bescheidenheit erhalten neue Bedeutung. Der Blick in die Augen autonom lebender und geistig reger Senioren lässt den Betrachter so nachdenklich wie optimistisch zurück – selbst in unsicheren Zeiten von Gesundheitswesen, Altersarmut und Rentenkürzungen. Eine so zurückhaltende wie direkte Ausstellung – eine komplizierte kunsttheoretische Analyse ist überflüssig …

Text: Chris Zander, Westwerk

 

 

 

100 x 100 Jahre

Einführung Prof. Gunnar F. Gerlach

Ausstellung: 12. bis 21. April 2013

Westwerk  → externer link

↑  Fotoprojekte