Made in Hamburg

– IM ARCHIV GEFUNDEN –

„Made in Hamburg“ Teil IV, Kunsthaus, 1994, Text Ludwig Seyfahrt

Schau ins Land, 1993/94, Elfteilig: zehn Farbfotos und ein Großdia, je 50 x 60 cm und 160 x 120 cm

Busstation »New-York-Ring«. Das Schild der Haltestelle prangt riesengroß vor einem strahlend dunkelblauen Himmel und einem leicht verschwommenen Stück funktionalistischer Architektur. Wo befinden wir uns? Wir haben genug Hinweise, das Motiv präzise im Hamburger Stadtraum zu lokalisieren. Doch das Haltestellenschild, innerhalb eines urbanen Kontextes eine wichtige Orientierung, ist hier jedes Bezuges beraubt. Egal, zumindest können wir sagen: Das Foto wurde in der Hamburger City Nord gemacht und ist, so ungewöhnlich seine Perspektive, ein bestimmbares Bild der Wirklichkeit.

Ein so blauer Himmel ist hier jedoch lange nicht mehr gesehen worden.

Wie bei Ansichtskarten hat Reiß wohl ein wenig manipuliert, geschönt. Vielleicht ist das Foto gescannt und mit dem Computer bearbeitet worden. Oder sieht alles deshalb so künstlich aus, weil es ein komplett computergeneriertes Bild ist, das einem Foto täuschend ähnlich sieht und dem nur zufällig ein reales Motiv zugrundeliegt?

Ganz ausgeschlossen ist auch die Möglichkeit nicht, daß es sich eigentlich um ein fotorealistisches Gemälde handelt, das Reiß anschließend abfotografiert hat. Wir können das alles als sinnlose Gedankenspiele abtun und uns von Reiß bestätigen lassen, daß er das Foto wirklich an Ort und Stelle gemacht hat und wirklich das wirkliche Haltestellenschild zu sehen ist.

Doch was nützt uns das? Die Zeiten, wo wir noch mit Walter Benjamin nach der beglaubigenden »Unterschrift«, nach der Aura als Spur der Zeit suchen könnten, sind vorbei. Nach Pop-Art, Fotorealismus und Computergrafik leben wir in einer Ästhetik der Simulakren, um mit Baudrillard zu sprechen, oder der Phantome, die sich zwischen Realität und Fiktion angesiedelt haben und die der Hamburger Literaturwissenschaftler Klaus Bartels im Anschluß an Günther Anders in die gegenwärtige Mediendiskussion eingebracht hat.

Reiß mag wirklich ein reales Motiv abfotografiert haben. Er wählte einen Aus-schnitt. Doch was soll der Begriff »Aus-schnitt«, wenn er – wie schon die Bilder der Fotorealisten – auf kein Ganzes, keine Totalität mehr verweist, auf das bezogen er ein ausgeschnittener Teil sein könnte?

Die Fotografien von DG Reiß verweisen unmißverständlich darauf, daß die Abbildung der Welt schon in naher Zukunft ein Sonderfall sein wird, mit dem man gar nicht mehr zu rechnen braucht, auch wenn er eintritt. 

LUDWIG SEYFARTH, in „Made in Hamburg IV“, Katalog zur Ausstellung, 1994